29. November 2009

Retroflektion und Introflektion II

Introflektion
Das Internalisieren von Überzeugungen, Werten und Anforderungen ist ähnlich wie die Retroflektion bereits ein Nebenprodukt des Lernens im Kindesalter. Bluckert bringt das Beispiel von der Überzeugung, dass man die Finger nicht in die Steckdose stecken soll als ein Beispiel solch einer nützlichen Introflektion. Überblickend betrachtet, halte ich die Introflektion jedoch für ein sehr virulentes Problem unserer Zeit. Die angeblichen Notwendigkeiten der Leistungsgesellschaft bauen zu einem großen Teil auf der ungefragten Übernahme von Überzeugungen, Werten und Anforderungen auf. Durch Introflektion unterwerfen wir uns leicht dem Common Sense und öffnen uns so verschiedenen Formen von Ausbeutung.

Problematisch wird es, wenn Introflektion uns daran hindert, eigene Bedürfnisse - sei es Liebe, Kreativität, Freiheit oder was auch immer - zu erfüllen. Es ist kaum möglich zwischen den von "außen übernommenen" Anforderungen und den "individuellen Bedürfnissen" zu unterscheiden. Man könnte sogar argumentieren, dass es keine originär von innen kommenden Wünsche und Anforderungen gibt (mal von biologischen Bedürfnissen abgesehen), denn schließlich wachsen wir alle in einer Gesellschaft mit anderen Menschen auf, die uns prägen und formen.

Es kann also wieder nur - und hier kommt der Coach ins Spiel - um Bewusstmachung dieser Mechanismen und um Hinterfragen von vermeintlich eigenen Wünschen und Vorstellungen gehen. Wenn man auf Nietzsche zurückgreifen möchte: "Werde, der du bist!" Und zwar, indem du die Vorstellungen und Wünsche identifizierst, die die selbst am nächsten liegen, für die du geeignet bist. Anschließend kannst du Handlungsstrategien entwickeln, um bei dir selbst, bzw. deinem Idealbalbild deiner selbst anzukommen.

Es wird deutlich, dass Introflektion erheblich dabei stören kann, Barrieren zu überwinden oder ambitionierte Ziele zu verwirklichen. Menschen können außerdem sehr verstört reagieren, wenn man sie mit ihren übernommenen Überzeugungen konfrontiert. Überzeugungen erleichtern uns das Handeln, denn wir müssen nicht bei jeder Entscheidung neu abwägen, was nun das Richtige zu tun sei. Es geht also an die praktische Existenz, wenn man seine Überzeugungen oder seinen Glauben aufgibt. Deshalb muss ein Coach, der frontal der Introflektion zu Leibe rückt, mit erheblichem Widerstand des Klienten rechnen. Um dem Klienten Spielräume zu eröffnen, sollte es schon ausreichen, ihn zur Reflexion seiner Überzeugungen zu bringen. Als Menschheit sind wir immer wieder dabei, überkommene Überzeugungen über Bord zu werfen. An solchen Bruchstellen gibt es dann immer wieder die großen Fortschritte der Menschheit. Als Beispiele: Abkehr vom geozentrischen Weltbild, Ablösen vom Glauben an (böse und gute) Götter, Abkehr von Kasten und Ständen. Alle diese Brüche markieren den Beginn neuer Errungenschaften, sei es Weltumseglungen und Entdeckungen neuer Kontinente, die naturwissenschaftlichen Durchbrüche oder das Durchsetzen von Demokratien zuerst in Europa und Nordamerika.

Retroflektion und Introflektion im Individuum berühren sich schließlich dort, wo eingeprägte Überzeugungen uns daran hindern, einen Konflikt zu lösen, z.B. indem wir unseren Vorgesetzten widersprechen. Wenn wir gelernt haben, dass man dies einfach nicht tut, dann werden wir vielleicht nie unseren Chef auf seine Ungerechtigkeiten hin ansprechen und den Konflikt nach innen wenden und negative über unseren Chef denken. Ganz kompliziert wird es, wenn wir dann auch noch gelernt haben, dass böse ist, negative Gefühle zu haben.

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